Womit beschäftigt sich die Geschlechterforschung?
LIBORA OATES-INDRUCHOVA: Das Geschlecht ist eine Kategorie, nach der wir alle eingeteilt werden. Wir spüren die Folgen in fast allen Lebensbereichen. Alter, Ethnie, Bildungsniveau oder Beeinträchtigungen sind andere Raster, die über uns gelegt werden. Je nachdem, wie unsere Einteilung verläuft, finden wir uns in gesellschaftlich privilegierter oder in benachteiligter Position wieder. Wir untersuchen, wie dieser Prozess verläuft.
Es geht also um die Folgen der „Gender-Brille“ – aber nicht nur für uns als Individuen?
LIBORA OATES-INDRUCHOVA: Wir wollen Hierarchien und Machtstrukturen benennen, die sich auf tradierte Denkweisen stützen. Wir legen Zuschreibungen offen, analysieren, wie sie entstehen und wie sie die Politik, Wirtschaft, Kultur sowie das tägliche Zusammenleben formen. Je intensiver wir uns damit auseinandersetzen, umso eher schaffen wir die Voraussetzungen für eine gerechtere Gesellschaft, die das Potenzial aller besser nutzt.
Aber dass es auf der Welt nicht fair zugeht, ist doch bekannt. Was gibt es hier aus einer Gender-Perspektive noch zu erforschen?
LIBORA OATES-INDRUCHOVA: Es gibt immer wieder neue Fragen, die sich auftun, und alte Fragen, die wir uns wieder stellen müssen, weil sich die Bedingungen oder der Kontext geändert haben. Die Geschlechterforschung trägt dazu bei, dass wir die Welt, in der wir leben, vollständiger begreifen. Sie stärkt auch demokratische Werte, wie etwa die Gleichstellung.
In welche Richtung soll sich die Geschlechterforschung weiterentwickeln?
LIBORA OATES-INDRUCHOVA: Die Erkenntnisse der Geschlechterforschung haben Bedeutung für alle Wissenschaftszweige und Lebensbereiche. Es ist also nicht möglich, ein allgemeines Rezept dafür zu geben, was erforscht werden muss. Die Covid-Pandemie hat aber dazu geführt, dass die Kategorie Geschlecht neben anderen Kategorien der Ungleichheit in den Vordergrund gerückt ist. Ungleichheit erzeugt Verwundbarkeit. Eine Gesellschaft mit zahlreichen oder großen verwundbaren Gruppen ist gegenüber plötzlichen Ereignissen, wie einer Pandemie, weniger widerstandsfähig.
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Gabriele-Possanner-Würdigungspreis für Irmtraud Fischer
Seit 1997 vergibt das Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung alle zwei Jahre die Gabriele-Possanner-Preise für wissenschaftliche Leistungen im Rahmen der Geschlechterforschung. Benannt ist der Preis nach der Ärztin Gabriele Possanner von Ehrenthal, die 1897 als erste Frau in Österreich einen akademischen Grad erlangte. Verliehen werden ein Staats-, ein Würdigungs- sowie zwei Förderungspreise.
Erste habilitierte katholische Theologin in Österreich
Heuer geht der Würdigungspreis an Univ.-Prof. Dr. Irmtraud Fischer, Professorin für Alttestamentliche Bibelwissenschaften an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Graz. Sie war 1993 die erste habilitierte katholische Theologin in Österreich. Derzeit ist sie Mitherausgeberin und Leiterin des Projekts „Die Bibel und die Frauen“, in dessen Rahmen über 20 Bände zur Auslegungsgeschichte der Bibel, mit Fokus auf gender-relevante Themen und biblische Frauenfiguren, in vier Sprachen erscheinen werden. Der Würdigungspreis ist eine symbolische Auszeichnung in Form einer Skulptur der Künstlerin Claudia Hirtl und ist mit keinem Preisgeld verbunden.
Neuer Podcast: „Gender & mehr – leicht gesagt!“
Irmtraud Fischer ist Gast in der ersten Folge des neuen Podcasts „Gender & mehr – leicht gesagt!“, den die Koordinationsstelle für Geschlechterstudien und Gleichstellung der Uni Graz gestaltet und umsetzt. >> Jetzt hier hören
>> Mehr zum Tag der Geschlechterforschung sowie zu aktuellen Forschungsprojekten aus diesem Bereich gibt es unter: https://koordination-gender.uni-graz.at